Blog 22
Tag 22
Gut, dass ich beim Mittagessen kurz auf Tony treffe. Beim Anblick des Paten aus Newark fällt mir ein, dass eins meiner Patenkinder heute Geburtstag hat. Gratuliere über seine Mutter und erfahre von ihr, dass der Junior schon 16 Jahre alt wird und zum Jubeltag einen Motorroller erhält. Es soll möglichst eine schwarze Vespa sein. Der italo-affine Onkel ist glücklich.
Prinzipiell ist der ganze Tag geradezu grossartig.
Schlafe die dritte Nacht in Folge zunehmend besser und stelle zum Ende meiner dritten Woche den Gesamtgewichtsverlust von 7 Kilo fest.
Mal schauen, was die vierte und letzte Woche noch bewirkt. In einer Woche verlasse ich diese wohltuende Stätte.
Lerne Herrn Eggerling kennen, einen hochgewachsenen, glatzköpfigen Physiotherapeuten, der sich meinem letzten wunden Punkt in meinem alten Bewegungsapparat annimmt.
Auch er strahlt diese unfassbare, klinikcharakterisierende Freundlichkeit und Kompetenz aus. Freue mich, dass er sich augenscheinlich Zeit nimmt und sich meine Geschichte anhört - irgendwo zwischen weinerlicher Männerempfindung und sorgenausströmenden Schmerzen.
Im Gespräch kreisen wir die Möglichkeiten ein und schlussfolgern (nach einem kleinen Test auf der Liege), dass beide Hüften für meine Schmerzen verantwortlich sind.
Ausgerechnet die Hüften - die Achillesferse meiner Familie, nachdem mein Bruder seine halbe Kindheit in einem Gipsbett verbracht hat - aufgrund einer kindlichen Hüfterkrankeung.
Somit folge ich dann wohl im Alter der Krankheitsgeschichte meines Bruders.
Man kann gar nicht glauben, wie viele Gedanken ein Hypochonder zwischen zwei Sätzen einer Fachkraft denken kann. Zumindest ich!
Werde nach meiner Rückkehr in die Heimat mich damit beschäftigen müssen - und der freundliche Herr Eggerling wird sich hier noch in zwei Terminen um mich kümmern. Dankbar schleiche ich, noch ohne Gehhilfe, zum Speisesaal.
Verstehe Tony erst gar nicht, als er mich fragt, wen er heute aus meinem persönlichen Umfeld kennenlernen darf.
Muss ihn für heute enttäuschen, da sich niemand angekündigt hat.
Aber vielleicht geht morgen noch einmal was - der Capo muss nur nicht glauben, dass ich ihm nur die jungen Dinger aus meinem Familien- und Freundeskreis vorstelle!
Apropos ‚ältere Familienmitglieder‘. Der phantastische Salinenarchivar (es handelt sich hierbei um ein Ehrenamt), Dirk Lange-Mensing, wurde fündig: mein Grossonkel Erwin Brökenkamp war 1945 für eine kurze Zeit Bürgermeister und dann bis 1960 Gemeindedirektor.
Wie wunderbar - selbst wenn er sich den Vornamen mit einem blau-weissen Zweitligamaskottchen teilt.
Onkel Erwin scheint der erste, demokratische Nachkriegsbürgermeister gewesen zu sein. Auch wenn ich ihn nie kennengelernt habe, so wird Herr Direktor Brökenkamp eine gewisse innerfamiliäre Grundlage für mein langjähriges, kommunalpolitisches Engagement gelegt haben.
Bei Familienfeiern gab mein Senior gerne die Anekdote zum Besten, dass er mal abends mit dem Motorrad zu Besuch von Hagen nach Bad Rothenfelde gefahren war. Er kam erst spät an und wollte seine Verwandtschaft nicht aus dem Schlaf klingeln. Mein Vater soll sich in den Vorgarten gelegt haben, um etwas zu schlafen. Seine Ähnlichkeit mit Onkel Erwin sorgte wohl anschliessend dafür, dass man in Bad Rothenfelde länger darüber sprach (wahrscheinlich hinter vorgehaltener Hand), dass der Bökenkamp betrunken vor dem Haus schlief... .
Es scheint Onkel Erwin nicht geschadet zu haben.
Der Salinenarchivar berichtet mir von der schweren Nachkriegszeit. Als Lazarettstandort war Bad Rothenfelde weitestgehend vom Bombenhagel der Kriegsjahre verschont geblieben - aber die anschliessende Besatzungszeit muss für viele Wirrungen in der Stadt gesorgt haben. Vor allem mussten die Flüchtlingsströme geordnet und dem Verschönerungsverein vorgestanden werden.
Glaube, dass es in meiner Heimatstadt nach dem Krieg kein Verschönerungsverein offiziell gehandelt hat. . .
Tausche mich mit Dirk Lange-Mensing noch länger aus. Er sagt mir zu, dass er mich über weitere Erkenntnisse gerne weiter unterrichtet. Auch der ortsansässigen SPD danke ich für den entsprechenden Hinweis und erfahre, dass sich die Genossen ebenfalls mal mit dem ersten Nachkriegsbürgermeister (sein Vorgänger war nur für drei Wochen im Amt) beschäftigen möchte. Komme gerne für einen historischen Vortrag irgendwann zurück.
Danke, an die ehrenamtlichen Kümmerer von Bad Rothenfelde - die heutigen Informationen über einen fast unbekannten Familienteil, waren langersehnter Seelenbalsam.
Gedankenverloren sitze ich am Abend mit dem neuen Wissen zur Familie am Schreibtisch - und frage mich, wie sowas Familienmitglieder aus dem beruflichen Umfeld von Tony Soprano erleben? Wäre dort der Onkel beim ausgetrockneten See Jahrzehnte später mit Betonfüssen entdeckt worden?